Die Zeit um 1800 wurde zu einem Einschnitt auf allen Gebieten, auch für die Militärmusik.
Bisher gab es für die Fußtruppen nur den langsamen Marsch von 75 bis 80 Schritten in der Minute. Er diente nicht zum Marschieren, sondern zum Angriff. Mit ihm rückten die geschlossenen Bataillons-Karrées gegen den Feind. Zwischendurch wurde kurz gehalten, geladen und geschossen, um dann wieder anzutreten. Dasselbe langsame Schrittmaß hatte die Parade, die ebenfalls in breiter Front und als geschlossener Block erfolgte. Das wirkte festlich, feierlich. Dem Parade-Abnehmenden gegenüber standen die sechs Regiments-Oboisten, verstärkt durch sämtliche Tambours, und bliesen.
Mit dem neuen Geschwindschritt (108 Schritte in der Minute) sollte nicht mehr angegriffen, sondern auf den Straßen im Gleichschritt marschiert werden. Die Regimenter erhielten dazu „Musikchöre" von etwa 30 Mann, für den erforderlichen Rhythmus das Janitscharen-Schlagzeug (kleine Trommel, große Trommel, Becken, Triangel) und einen Kapellmeister zur Leitung. Daneben blieb fürs erste der langsame Marsch bei Paraden erhalten, die nun zweimal, im langsamen und im schnellen Schritt stattfanden. Die Musikchöre brauchten also dringend Noten. Für den Geschwindschritt gab es keine, und die für den langsamen Schritt waren in den sieben Jahren französischer Besatzung und in den anschließenden drei Jahren Befreiungskrieg verloren. So sah es trübe aus, und es war erstaunlich, als der Preußische König Friedrich Wilhelm III. mit Kabinetts-Order vom 10.02.1817 seinen Regimentern die Partituren von 36 langsamen und 36 Geschwind-Märschen zugehen ließ. Die langsamen Märsche waren in einer Sammlung I durchnummeriert, die Geschwindmärsche in einer Sammlung II. Sie waren der Armee zugewiesen und hießen daher „Armeemärsche" (AM). Aber woher kamen plötzlich 72 Märsche?
Sie kamen aus Russland, direkt aus Russland! In Moskau hatte man 1812 Napoleons Siegeszug durchstehen müssen, aber die Hauptstadt des Landes, St. Petersburg, war unberührt geblieben. Hier in St. Petersburg wirkte ein junger Deutsch-Böhme, der 1802 aus Prag eingewandert, seit 1809 mit 28 Jahren Kaiserlich-Russischer Direktor der Militärmusikschule sowie Dirigent aller dortigen Garde-Musiken war. Er hieß Anton Dörfeldt. Im Rahmen seiner Aufgaben hatte er auch Märsche komponiert, andere - darunter österreichische und preußische - gesammelt, arrangiert und damit eine Kaiserlich Russische Armeemarsch-Sammlung angelegt, die um 1815 rund 70 langsame und 70 Geschwind-Märsche umfasste.
Von dieser Sammlung erfuhr der Preußische König wahrscheinlich Ende Oktober 1815, als der Russische Kaiser Alexander I. auf der Rückreise aus Paris seinen Freund und Bundesgenossen in Berlin besuchte. Man kam überein, dass der Preußische König ein Exemplar der Russischen Armeemarsch-Sammlung erhalten werde. In Berlin wurde eine Kommission tätig, der auch die beiden Garde-Kapellmeister Krause (vom 1. Garde-Regiment zu Fuß) und Weller (vom 2. Garde-Regiment zu Fuß) angehörten, und die nun aus der Russischen Armeemarsch-Sammlung für die preußischen Truppen 36 langsame und 36 Geschwind-Märsche auswählte. Den Notendruck führte der Berliner Musikverlag Adolf Martin Schlesinger durch.
Mit diesen 72 Märschen begann im Jahre 1817 die Königlich Preußische Armeemarsch-Sammlung, die als „Sammlung" während der nächsten hundert Jahre (bis 1918) auf 101 Nummern in Sammlung I und auf 244 Nummern in Sammlung II anwuchs und jetzt zu einer deutschen Armeemarsch-Sammlung geworden ist. Sie ist ein Kulturgut, das wir noch heute komplett besitzen und – spielen! Von der Schönheit der ersten Märsche geben uns die neuen Langspielplatten Kenntnis.
Erst 1824, also sieben Jahre später, verfügte König Friedrich Wilhelm III. auch eine Sammlung III für die berittenen Truppen, als diese durch allgemein eingeführte Blechblasinstrumente mit Ventilen von ihrer auf Naturtöne beschränkten Fanfaren-Musik freigekommen waren. Diese Sammlung hatte im Jahre 1918 139 Nummern. Freilich waren einige Märsche mehrmals nummeriert, das heißt, auch in zwei Sammlungen gleichzeitig enthalten.